Applaus-Videos in Krisenzeiten – Wann endlich werden sie überflüssig?

»Wenn Wertschätzung mit großer Symbolik beteuert werden muss, liegt bereits viel im Argen.«

Folgt auf die symbolische auch eine faktische Wertschätzung?

Um es gleich vorweg zu sagen: Auch wir freuen uns täglich, dass man Krankenpflegern, Kassiererinnen, Intensivmedizinerinnen, Polizistinnen und Feuerwehrmännern applaudiert. Es ist auch schön zu sehen, dass Unternehmen wie Aldi, Lidl, Edeka & Co. ihrem Personal für das Durchhalten danken – und ihm sogar einen Bonus auszahlen. Endlich erhalten unter der Rubrik »Helden des Alltags« LKW-Fahrer und Paketzustellerinnnen Sendezeit in den Tagesthemen. Die Arbeit des chronisch unterbezahlten Dienstleistungsprekariats erweist sich nun sehr spürbar als systemrelevant. Offensichtlich bedarf es einer Krise, um dieses Bewusstsein herzustellen. Der Sprung in der Wertschätzungsskala vom unbeachteten und nicht selten als Effizienzpotenzial wirtschaftlichen Denkens betrachteten Personal zur Heldin oder zum Helden erfolgte von jetzt auf gleich, von null auf hundert.

Es gehört zu den Eigenheiten des Social-Media-Zeitalters, dass man angesichts der Flut von Beifall-Videos am Ende nicht mehr so genau weiß, wer eigentlich wen feiert und ob es nicht oft auch eine Fortsetzung des eingeübten Reflexes der Selbstinszenierung ist. Wie auch immer, schließlich beinhaltet jeder Akt des Gebens immer auch die Erwartung, sich danach selbst besser zu fühlen.

Es geht aber um etwas anderes. Echte Wertschätzung belässt es nie bei Appellen und Symbolen. Man könnte auch sagen: Wenn an Wertschätzung erinnert werden muss, wenn sie explizit geäußert werden muss, liegt bereits viel im Argen. Wir kennen ein Unternehmen, das seine Leiharbeiter besser bezahlt als seine Festangestellten. Der Grund für diese betriebswirtschaftlich irrationale Entscheidung liegt darin, dass der Geschäftsführer sich der Tatsache bewusst ist, sein unternehmerisches Risiko auf die Leiharbeiter – das schwächste Glied in der Kette – zu verlagern. Und genau deshalb erhalten sie mehr Geld als diejenigen, die einen festen Arbeitsvertrag haben. Wenn man so etwas tut, also Strukturen und Rahmenbedingungen schafft, die eine gewünschte Kultur (etwa Wertschätzung) ermöglichen und real erlebbar machen, sind Appelle und Bekundungen aller Art sympathisches Beiwerk, aber letztlich nicht nötig.

Es bleibt also abzuwarten, was nach einer früher oder später überstandenen Krise übrigbleibt. Hoffen wir, keine Applaus-Videos mehr sehen zu müssen, weil auf die durchaus ehrenwerte symbolische Anerkennung endlich Arbeitsbedingungen gefolgt sind, die Wertschätzung auch in materieller Hinsicht zu einem Faktum machen.

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